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Strategien für einen klimaneutralen Gebäudebestand


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Mit welchen Gebäude- und Sanierungskonzepten ist die Energiewende im Gebäudesektor machbar? Welche neuen Technologien, Energiesysteme und Methoden eröffnen hierfür neue Perspektiven? Und welche Trends zeichnen sich für die nächsten Jahre ab? Diese Fragen diskutierten mehr als 300 Experten aus Architektur und Gebäudeplanung, aus Immobilienwirtschaft und Liegenschaftsverwaltung, dem Bauwesen sowie aus der Forschung auf dem EnOB-Symposium 2014 in Essen. Sie trafen sich im industriehistorischen Ambiente der Zeche Zollverein zum Ideenaustausch. Diskutiert wurden die Ergebnisse und Erfahrungen aus den Projekten der Forschungsinitiative EnOB. Wichtige Themen waren dabei neue Konzepte für die Gebäudesanierung und die aktive Einbindung von Gebäuden in Strom- und Wärmenetze.

Mehr als 150 Jahre wurde in der Zeche Zollverein Steinkohle gefördert. Doch weil sich in Deutschland das Kohlezeitalter dem Ende zuneigt, dient die unter Denkmalschutz stehende Anlage schon seit vielen Jahren als industriehistorisches Museum. Es war also genau der richtige Ort, um Ideen und Pläne für das postfossile Zeitalter zu schmieden. Mit einem zweitägigen Symposium stellte die Forschungsinitiative EnOB am 20.-21. März 2014 neue Technologien, Komponenten und Systeme aus der Energieforschung vor. Unter dem Motto „Energieinnovationen in Neubau und Sanierung“ wurden die Möglichkeiten für den Einsatz neuer Technologien und Konzepte in Neubau und Sanierung beispielhaft aufgezeigt. Im Kontext wissenschaftlich evaluierter Demonstrationsprojekte waren Energieeffizienz, Raumkomfort, Lebenszykluskosten und Wirtschaftlichkeit sowie Energiesystemoptimierung die entscheidenden Themen.

Sanierung muss unkomplizierter und kostengünstiger werden
Die Sanierung von Wohngebäuden erfordert langwierige Baumaßnahmen, während die Gebäude zumeist weiter genutzt werden. Das ist nicht gerade unkompliziert. Zudem amortisieren sich die baulichen Maßnahmen oft erst nach vielen Jahren über reduzierte Energiekosten. Sanierung muss also, darin waren sich alle Teilnehmer der Veranstaltung einig, einfacher und kostengünstiger werden, um für alle Beteiligten attraktiver zu werden. Industrielle Vorfertigung im Baukastenprinzip und Konzepte der Systemintegration sind mögliche Strategien zur Senkung der Sanierungskosten bei gesteigerter Ausführungsqualität.

Es gibt bereits einige Forschungsansätze zur Sanierung von Gebäuden mit großen, vorgefertigten Elementen. Die bereits praktisch erprobten Konzepte reichen von großformatigen Holzelementen mit und ohne Integration von gebäudetechnischen Systemen bis hin zu kleinformatigen Fensterrahmenmodulen. Doch die Vision von komplett vorgefertigten Fassaden ist nicht nicht so einfach umsetzbar. Der Projekt- und Planungsaufwand ist bei diesen Konzepten in vielen Fällen höher als bei der individuellen Sanierung auf der Baustelle.

Kleinformatig vorgefertigte Fassadensysteme im Vorteil
Michael Krause vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) in Kassel verspricht sich weiter Vorteile von einer industriellen Vorfertigung. In einem Forschungsprojekt seines Instituts wurden kleinformatige Fensterkragensysteme entwickelt. Das einzelne Element besteht neben dem eigentlichen Fenster samt Fensterzarge aus einer Technikbox und einem Dämmstoffrand. Es wird als selbsttragendes Modul von außen in die alte Fensterlücke geschoben und überdämmt die alte Fassade im Fensterbereich. In die Technik-Box lassen sich Komponenten wie Lüfter, Wärmetauscher, dezentrale Heizungsmikropumpen und Filter einbauen. Auch Stromanschlüsse, Lüftungskanäle oder Internetkabel können unter dem Dämmstoff und über die Technikbox ins Haus geführt werden.
„Kleinformatige Systeme sind in der Baupraxis einfacher und kostengünstiger realisierbar,“ sagt Michael Krause. „Aber Vorfertigung und Multifunktionalität erfordern neue Geschäftsmodelle, gewerke­über­greifende Ansätze und neue Abläufe im Bauprozess,“ ergänzt Krause.

Gebäudesanierung stabilisiert Stromnetz
Gibt es eine Wechselwirkung zwischen Gebäudesanierung und erneuerbare Energien? Diese Frage ist ein Thema in verschiedenen Forschungsprojekten. In einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) haben die Forscher die Auswirkungen auf das Stromnetz untersucht, wenn im deutschen Gebäudebestand die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 85 Prozent reduziert werden. Demnach sinken die Anforderungen an Strom- und Wärmenetze, wenn mit einer umfassenden Sanierung ein hoher Wärmeschutz für den Gebäudebestand erreicht wird. „Konsequente Sanierung reduziert nämlich den Bedarf an fluktuierendem Solar- und Windstrom“, erläutert Sebastian Herkel vom Fraunhofer ISE.

Gebäude machen sich netzdienlich
Doch die Forscher trauen Gebäuden auch eine aktivere Rolle im künftigen erneuerbaren Stromnetz zu. „Gebäude können in Zukunft überschüssigen Solar- und Windstrom hocheffizient in Form von Wärme und Kälte nutzen und speichern“, so Herkel weiter. Dazu müsse die Interaktion der Gebäude mit den Strom- und Wärmenetzen steigen, die Energienutzung müsse flexibler, die Gebäude könnten „netzdienlicher“ werden. Die sogenannte Netzdienlichkeit von Gebäuden meint die Fähigkeit, den Strombedarf zeitlich verschieben zu können. Hierfür sind geeignete Regelungsstrategien für die Gebäudeenergietechnik erforderlich, um Wärmekapazitäten im Gebäude, also beispielsweise die thermische Speichermasse der Gebäudekonstruktion, so zu nutzen, dass hoher Strombedarf mit den Erzeugungskapazitäten des Stromnetzes synchronisiert wird.
Netzdienlichkeit kann also durch technologische Innovationen vor allen im Bereich der Speichertechnik und mit der Gebäudeautomation erreicht werden. Aus wirtschaftlichen Gründen eignen sich hierfür zunächst große Bürogebäude und andere Nichtwohngebäude mit komplexer Gebäudetechnik.

Neues Designkriterium für Gebäudeplaner
„Vieles spricht dafür, dass Netzdienlichkeit zum weiteren, grundlegenden Designkriterium für die zukünftige Gebäudeplanung avanciert, das gilt insbesondere im Kontext eines regenerativen Stromnetzes,“ meint Karsten Voss von der Bergischen Universität Wuppertal. Doch noch gibt es weiter offene Fragen: Wie kann Netzdienlichkeit definiert werden? Was bedeutet sie konkret für die Gebäudeenergiekonzepte und für die Gebäudesanierung? Und wie kann Netzdienlichkeit methodisch begründet, quantifiziert und bewertet werden? In weiteren Projekten der Forschungsinitiative EnOB soll dies genauer geklärt werden.

Gebäude könnten vom rein bedarfsgesteuerten Stromverbraucher zum interaktionsfähigen Partner mit Energiespeicherpotenzial für Strom- und Wärmenetze fortentwickelt werden. Dabei spielen regenerativ und reversibel betriebene Wärmepumpen eine besondere Rolle. Verschiedene Forschungsprojekte dokumentieren, wie effizient in Gebäuden mit thermischer Bauteilaktivierung die Erdreichwärme über Erdsonden zur Gebäudetemperierung genutzt wird – zur Beheizung und zur Kühlung.

Demand-Side-Management mit elektrischen Wärmepumpen
Es gibt im Nichtwohnungsbau offensichtlich einen Trend zur Wärme- und Kältebereitstellung über reversible, erdreichgekoppelte Wärmepumpen in Verbindung mit thermischer Bauteilaktivierung. Doreen Kalz vom Fraunhofer ISE hat ein gutes duzend solcher Anlagen einer genaueren energetischen und wirtschaftlichen Analyse unterzogen. Die Anlagen werden in EnOB-Modellprojekten betrieben, also in Gebäuden, die einem wissenschaftlichen Monitoring unterzogen werden. Neben der Jahresarbeitszahl als Maßstab für die Energieeffizienz interessierte bei der Analyse auch das Zeitprofil der Stromnachfrage, um die Netzdienlichkeit, also die Eignung des Anlagenbetriebs für regenerativ gespeiste Stromnetze beurteilen zu können. Die untersuchten Anlagen verhalten sich dabei ziemlich unterschiedlich, was auf Unterschiede im Anlagendesign und in der Betriebsführung zurückzuführen ist. Tendenziell waren die untersuchten Anlagen noch nicht netzdienlich. Dies gilt vor allem fürs Heizen. Beim Kühlen ist die Situation oft günstiger, weil reaktionsschnelle Kühldecken und Randstreifenelemente beim lastgeführten Betrieb die größte Stromnachfrage in Zeiten hoher Solar- und Windstromanteile haben.

Zeitliche Anpassung der Stromnachfrage
„Es gibt verschiedene technische Möglichkeiten, die Stromnachfrage solcher Anlagen in einen bestimmten Zeitkorridor zu verschieben, um sie netzdienlicher zu betreiben,“ sagt Doreen Kalz. „Beispielsweise mit ergänzenden Kühl- und Heizelementen, um auch in den Mittagszeiten Kühl- oder Heizenergie schnell an den Raum übergeben zu können, oder mit zusätzlichen Wärmespeichermassen oder angepassten Regelungsstrategien,“ erläutert Kalz weiter. Noch lohne sich ein Abweichen vom rein lastgeführten oder zeitstarren Betrieb der Anlagen wirtschaftlich nicht. Hierfür müssten stärkere Anreize für eine netzdien­liche Charakteristik der Stromnachfrage geschaffen werden, beispielsweise durch zeitvariable Tarife.

Blick auf zukünftige Energieversorgungsstrukturen
Am Abend des ersten Veranstaltungstages sollte Martin Pehnt vom Forschungsinstitut ifeu in Heidelberg mit seiner keynote den Blick noch weiter auf das Große und Ganze öffnen: Er fragt sich, wie denn das Ziel der Bundesregierung, bis 2050 einen „nahezu klimaneutralen Gebäudebestand“ zu erreichen, machbar ist? Welche Maßnahmen kommen in Betracht und mit welchem Energiesystem haben wir es als Planer und Betreiber von Gebäuden dann zu tun?
„Trotz aller Unsicherheit über die zukünftigen Energieversorgungsstrukturen und den Transformationspfad dorthin sollten wir nicht abwarten. Denn wir wissen immerhin, dass grundlegende Maßnahmen zur gebäudebezogenen Energieeffizienz, wie beispielsweise konsequente Wärmedämmung oder kleinere Temperaturdifferenzen für Heizung und Kühlung, den Möglichkeitsraum für zukünftige Energiesysteme erweitern,“ sagt Martin Pehnt.

Strategien für Klimaneutralität im Gebäudebestand
Für das Ziel Klimaneutralität gebe es verschiedene Strategien, die teils in Konkurrenz zu einander stehen und sich teilweise auch ergänzen könnten: Energieeffizienz oder Erneuerbare Energien, Stromnetze oder Wärmenetze, Wärmespeicher oder Stromspeicher, gebäudebezogene oder regional vernetzte Energieversorgungsstrukturen und so weiter. Hinzu komme die Konkurrenz vieler Einzeltechnologien. Die Experten seien sich noch nicht im Klaren, welche Technologien, Strukturen und Maßnahmen am sichersten und kostengünstigsten zur Klimaneutralität führen. Aber er ist überzeugt, dass eine neue Wärmeversorgungsstruktur kommen wird und dass Wärmenetze generell an Bedeutung gewinnen. Dabei werde es mehr quartiersbezogene Kraft-Wärme-Kopplung geben, die zudem stärker stromgeführt und wärmeseitig flexibilisiert sein muss. Die für Pehnt wichtigen Wärmenetze werden via Blockheizkraftwerke und Wärmepumpen mit dem Stromnetz gekoppelt. Mit großen Wärmespeichern könne dann überschüssiger Strom auch in Form von Wärme gespeichert werden, beispielsweise in Tag-Nacht-Zyklen über die thermische Speichermasse von Gebäuden.

Die große Chance von Wärmenetzen
„Die große Chance von Wärmenetzen liegt darin, dass durch Technologiewechsel und –sprünge bedingte Effizienzsteigerungen zentral und nicht in vielen tausend Heizkellern realisiert werden können“, schlussfolgert Pehnt. „Außerdem bringen Wärmenetze mit geeigneter Stromkopplung mehr Flexibilität für die Stromnetze. Auch die Nutzung industrieller Abwärme wird wieder interessanter,“ ergänzt Martin Pehnt. Allerdings machte er auch deutlich, dass Blockheizkraftwerke und erneuerbare Energien in Konkurrenz stehen. Mehr Einspeisung von regenerativer Energie in Strom- oder Wärmenetze schmälere die Möglichkeiten, Wärme aus Kraft-Wärme-Kopplung wirtschaftlich am Markt zu platzieren.

Gebäude interagieren mit Wärme- und Stromnetzen
Sogenannte netzreaktive Gebäude werden mit Strom- und Wärmenetzen interagieren können und eine fluktuierende Einspeisung erneuerbarer Energien in diese erleichtern. Erst mit einer hohen Energieeffizienz sowie Energiemanagement- und Netzinteraktionsfähigkeiten können erneuerbare Energien zum Rückgrat des Stromnetzes werden. Solche Gebäude haben nur sehr wenig Wärme- und Kältebedarf, eine gute Wärme- und Kältespeicherfähigkeit und sie können mit den Netzen interagieren und deren momentanes Leistungsvermögen berücksichtigen.

Dieser Bericht kann nur einen kleinen Teil der Tagungsthemen beleuchten. In dem Tagungsband zum EnOB-Symposium 2014 finden sich alle Vorträge in Manuskriptform sowie die mehr als 130 gezeigten Projektpräsentationen der Posterausstellung.

 


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